Syrischer Oppositionsführer Riad Seif

Merkel muss den Respekt nutzen

von: Riad Seif

Handelsblatt

Datum: 25.09.2015 14:01 Uhr

PremiumDer Unternehmer und Vizechef der syrischen Oppositionspartei im Exil, Riad Seif, über die Rolle der deutschen Kanzlerin im Umgang mit Flüchtlingen und der Gewalt in seinem Heimatland. Ein Gastbeitrag

Bundeskanzlerin Angela Merkel genießt derzeit riesigen Respekt unter uns Syrern. Deutschland hat sein Herz geöffnet für uns. Frau Merkel hat eine Entscheidung getroffen, und die war richtig. Angela Merkel vereint zwei Herzen in ihrer Brust: Sie ist der Leader für Deutschland, und sie hat eine große Mitmenschlichkeit. Das spüren wir, und das brauchen wir jetzt auch.

Angela Merkel ist keine Eiserne Lady wie Margaret Thatcher, sie hat ein Herz und möchte etwas für die Menschen tun. Und das brauchen wir jetzt. Wir sind sehr dankbar für die Aufnahme. Aber wie lange gilt das? Und was wird Kanzlerin Merkel tun, um den Konflikt in meiner alten Heimat zu beenden?

Der 68-Jährige ist einer von zwei Vizepräsidenten des oppositionellen syrischen Nationalrats. Er konnte wegen einer schweren Krebserkrankung mit Hilfe der Vereinten Nationen im Juni 2012 Syrien verlassen. Seif war dort ein erfolgreicher Unternehmer, der unter anderem in den 1990er-Jahren für Adidas produzierte. 1994 wurde er erstmals Abgeordneter. Später musste er fünf Jahre ins Gefängnis, weil er kritisiert hatte, dass lukrative Telekom-Lizenzen an den Familien-Clan von Staatschef Assad gingen. Seif büßte für seinen Kampf gegen die Korruption und Diktatur mit faktischer Enteignung und mehreren Inhaftierungen. Er lebt heute in Berlin und Istanbul.

Angela Merkel muss den Respekt der Syrer nutzen. Deutschland ist das Land, das am meisten und am besten Druck auf Russland machen kann, um eine Lösung des Syrien-Konflikts zu erreichen. Ohne Moskau geht das nicht. Und Russlands Interesse in Syrien richtet sich nicht gegen unseres, das der säkularen, liberalen, demokratischen Opposition.

Frau Merkel ist inzwischen so respektiert in ganz Syrien, dass sie nun offen sagen kann: „Wir brauchen Freiheit und Demokratie in Syrien, der Diktator Baschar al-Assad muss gehen, und Russland und der Westen richten eine Flugverbotszone ein über dem Land.“ Dann kann Assad sein Volk nicht mehr terrorisieren mit den Attacken seiner Luftwaffe und Fassbomben, die aus Hubschraubern abgeworfen werden auf zivile Stadtviertel und viel mehr Menschen getötet haben als die Kämpfer des Islamischen Staates, die wir Daesh nennen.

Frau Merkel muss Assad stoppen, Fassbomben auf sein Volk zu werfen. Sonst wird es immer mehr Flüchtlinge geben, dann werden 20 Millionen Syrer ihr Land verlassen. Es muss Frieden, Demokratie, Freiheit und gleiche Rechte für alle in Syrien geben, nur so lässt sich der blutige Krieg beenden.

Assad und seine Familie, die das Land als ihren Privatbesitz missbrauchen und die Macht in Damaskus noch einmal vom Vater auf den Sohn übertragen wollen, müssen weg. Auch Russland werden sie nichts mehr nützen, das muss Frau Merkel Moskau klarmachen. Wir wollen nicht, dass Russland danach keinen Einfluss in Syrien mehr hat. Viele Syrer haben in Russland studiert, es gibt Zehntausende Ehen von Menschen unserer beiden Länder, wir haben viele gemeinsame Interessen.

Hunderttausende von Flüchtlingen werden dieses Jahr in Deutschland Asyl beantragen. Was denken sie? Was wollen sie? Weil die Neuankömmlinge noch immer vielsprachig sprachlos sind, will das Handelsblatt ihnen eine Stimme geben: Auf 52 Seiten sprechen und schreiben Künstler und Unternehmer, Schriftsteller, Ärzte und Ingenieure, Männer und Frauen aus Afghanistan, Iran und und Irak, Syrien, Eritrea aber auch dem Kosovo über Merkel und Europa, Heidenau und das Schleppergeschäft, ihre Schicksale und ihre Träume – aber auch die Sorgen der Deutschen, mit denen sie nun konfrontiert werden.

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Doch wir warten sehnsüchtig darauf, dass die Weltgemeinschaft nun endlich eingreift und das Blutvergießen stoppt. Wir brauchen endlich eine Flugverbotszone über Syrien, damit Assads Morden aufhört. Und dann wird er auch stürzen.

Als Assad begann, seine Panzer einzusetzen, dachten wir, nun hält ihn die Weltgemeinschaft auf. Aber nichts geschah. Als er mit der Luftwaffe sein Volk bombardierte, hofften wir, nun würde man ihn stoppen. Dann setzte er Chemiewaffen gegen uns ein, und wieder griff niemand gegen ihn ein. Nun schmeißt er Fassbomben auf Zivilisten, löscht ganze Straßenzüge aus. Wie lange soll noch gewartet werden, bis die Welt dem Morden in Syrien Einhalt gebietet?

Als wir 2011 mit unseren Protesten begannen mit friedlichen Demonstrationen in Damaskus, wollten wir von Assad Reformen. Es waren so viele Menschen auf den Straßen, eine echte Revolution. Aber statt wenigstens eine zaghafte Öffnung zu beginnen, antwortete Assad mit Gewalt. Er ließ mich ins Gefängnis werfen. Zuvor schon haben sie mir alles genommen, meine Fabriken, mein Geschäft. Ich habe alles verloren, saß fünf Jahre im Gefängnis.

Während ich im Mai 2011 erneut festgenommen wurde, entließ Assad Hunderte Verbrecher und Extremisten. Er hat damit den Islamischen Staat und die islamistische Al-Nusra-Front gestärkt, um die politische Opposition zu vernichten. Aber wir Syrer wollen keine islamischen Fundamentalisten. Wir wollen Demokratie und Freiheit.

Nach Assads Sturz werden bei uns nicht die Islamisten an die Macht kommen, das wollen wir Syrer nicht. Syrien ist ein ganz anderes Land als Irak und andere Staaten. Wir wollen gleiche Rechte für alle, eine freie Gesellschaft, kein Kalifat. Viele Syrer kämpfen doch nur für Daesh, al-Nusra oder al-Qaida, weil sie sonst kein Geld zum Überleben bekommen. Uns Syrern aber ist islamischer Fundamentalismus fremd.

2001 las ich im Gefängnis zum ersten Mal Ludwig Erhards Buch „Wohlstand für alle“. Es hat auch mein Verständnis für Soziale Marktwirtschaft gestärkt. Wir Syrer wollen Demokratie und Marktwirtschaft. Wir wissen, dass der Kuchen erst größer werden muss, bevor er geteilt wird, dass wir investieren statt nur konsumieren müssen, dass wir Sozialpartnerschaft brauchen. Die Lehren Erhards gelten auch für Syrien.

Im Juni 2012 konnte ich mit Hilfe der Vereinten Nationen aus Syrien fliehen. Sie hatten auf mein Schlafzimmer geschossen, und ich wusste, ich muss gehen. So kam ich erst nach München, dann ging ich nach Berlin, wo ich als Politiker besser aufgehoben bin. Nun pendle ich zwischen Berlin und Istanbul, um ein Ende des Krieges in Syrien zu erreichen. Deutschland ist meine zweite Heimat, und ich hoffe, dass Frau Merkel nun all ihr politisches Gewicht einsetzt, um mit Russland und anderen Staaten der Weltgemeinschaft ein Ende des Blutvergießens zu erzwingen.

Die Deutschen und mich eint eine lange Geschichte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion half uns Adidas, den weggebrochenen Markt im Ostblock, für den meine Textilfabrik produzierte, zu ersetzen: Ich bekam quasi als Weihnachtsgeschenk für meine Arbeiter zwei Tage vor Heiligabend 1991 die Lizenz zur Herstellung von Adidas-Shirts. Das hat mein Unternehmen damals gerettet. Und jetzt hoffe ich wieder auf Deutschland.
Aufgezeichnet von Mathias Brüggmann